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Kategorie: Menschen mit Visionen

Im Gespräch mit Cornelia Funke: “Fange mit deinen Talenten etwas an, wenn du glücklich werden willst…”

von Ariane Toepfer und Caroline Eberwein

Cornelia Funke © Cornelia Funke © Cornelia Funke

Mit schnellem Schritt, jedes Detail mit ihren blitzenden Augen bemerkend, werden wir herzlich und fröhlich begrüßt. Sie hat sichtlich Spaß. Sie wirkt natürlich, ungeschminkt und hat den Charme einer Frau, die sich ihrer Sache bewusst und gleichzeitig mädchenhaft jung geblieben ist.

Wie sind Sie heute zu dem geworden, was Sie sind? Sie sind nicht als Schriftstellerin geboren worden, oder?
Sie lacht. Nein, ich war nicht immer Autorin. Ich habe mein Abitur in Dorsten, einer Stadt im deutschen Westfalen gemacht, die ich als recht eng empfand. Glücklicherweise wusste ich dank meiner Bücher, dass die Welt außerhalb wesentlich größer und schillernder war. Und diese Welt wollte ich nach dem Abitur erst mal verbessern. Die Ausbildung als Sozialpädagogin erschien mir als gutes Rüstzeug dazu. Im Rückblick kann ich euch nur raten, den Erwachsenen nicht zu glauben, die euch weismachen wollen, dass ihr mit spätestens 18 Jahren wissen sollt, welcher Beruf für euch der richtige ist. Mit einigen Ausnahmen ist das schlichtweg Unfug. Probiert einfach so viel wie möglich aus, bis ihr etwas findet, das euch Spass macht. Ich habe es gefunden, als ich 35 Jahre alt war. Zuvor habe ich auf einem Bauspielplatz mit vielen Kindern gearbeitet, die es nicht gerade leicht im Leben hatten. Ziemlich tapfere kleine Kinder. Schließlich stellte ich fest, dass man mit den Talenten, die man mitbekommen hat, wohl auch etwas anfangen muss, um glücklich zu sein. Also ging ich wieder zur  Schule, wurde Buchillustratorin, denn gezeichnet hatte ich schon immer sehr gern. Dann war ich unzufrieden mit den Geschichten, die ich bebildern sollte und erfand eine eigene – und entdeckte, dass ich ein Geschichtenerzähler bin – und dass ich nichts lieber tue und nichts besser kann. Ein zweisprachiges Mädchen, das den Mut hatte, sich bei einem englischsprachigen Verlag zu beschweren, dass es ihr Lieblingsbuch, den “Herr der Diebe”, nicht auf Englisch gab, veränderte mein Leben nochmals. Es gefiel dann ziemlich vielen englischsprachigen Lesern…

Ihre Geschichten ziehen Millionen in Bann, sie leiden, zittern, lieben und leben mit den Figuren mit. Bücher und Geschichten ja, aber wie steht es mit Videospielen?
Kinder und Jugendliche brauchen dringend Inspirationen durch Geschichten. Die Geschichten sind wie Türen und Fenster zur Welt. Sie wird nachdenklich und zitiert J.R.R. Tolkien. “Wer hat denn etwas gegen die Flucht außer dem Kerkermeister?” Jugendliche müssen fliehen, um sich zu wehren. In dem Moment, in dem wir die Realität als etwas Unveränderliches akzeptieren, sind wir gefangen. Ich bin ein Verfechter der Idee von alternativen Weltentwürfen wie Science Fiction und Fantasy. Jede phantastische Welt ist unsere Welt, wie ein Spiegelbild. Das phantastische Erzählen ist eigentlich das realistische Erzählen. Sie ergänzt, während ihr der Schalk in den Augen blitzt: Ich glaube, dass der Realitätsbegiff etwas ist, an dem man ständig rütteln muss. Es gibt in meinem Verständnis kein politischeres Erzählen als das phantastische Erzählen. Es gibt Statistiken, die belegen, dass Leser von Science Fiction wesentlich häufiger politisch aktiv sind.

Interview Funke Grafik 4 (c) Cornelia Funke © Cornelia Funke

Sie haben sehr viele unterschiedliche Projekte, die Sie gleichzeitig verfolgen. Sie sind Schriftstellerin, Illustratorin, haben Ende 2015 ihren eigenen Verlag ‘Breathing Books’ gegründet, nehmen Auszeichnungen entgegen, schreiben Wettbewerbe aus, reisen… Wie schaffen Sie dieses Arbeitspensum?

Ja, das stimmt. Sie lacht vergnügt. Und Sie haben vergessen, dass ich auch mit Musikern zusammenarbeite. Ich habe mit einem der amerikanischen Verlage meinen Vertrag aufgelöst und einen eigenen Verlag gegründet. Im Moment bin ich dabei, dieses Konzept zu festigen. Ich plane, mit Künstlern zusammenzuarbeiten und denke daran, irgendwann junge Illustratoren aus aller Welt zu fördern, unter ihnen natürlich auch muslimische Künstler, weil ich fest daran glaube, dass die Kunst massgeblich dazu beitragen kann, einandere besser zu verstehen und die immer weiter werdene Kluft zu überbrücken. Ich spiele gern mit dem Gedanken, irgendwann Workshops auf einer alten Farm mit vielen leeren Scheunen anzubieten, aber das liegt wohl doch noch weit in der Zukunft – oder muss in einem anderen Leben passieren. Mich interessiert ein Zusammenkommen aller Künste, Wort, Bild und natürlich auch Musik. Ich habe allerdings vorerst nicht vor, meinen Verlag anderen Autoren zu öffnen, denn dann müsste ich deren Erwartungen erfüllen – und würde meine neu gewonnene Freiheit von kommerziellem Druck gleich wieder verlieren. Eins der nächsten Bücher, das wir veröffentlichen, wird ein Bilderbuch sein, das erste, das ich auf Englisch geschrieben und selbst illustriert habe. Ich habe es dann auf Deutsch nochmal geschrieben, da die Sprachen doch sehr verschieden sind. Ich nenne es gern als mein “Tintenherz” für kleine Kinder, weil die Bücher, die darin vorkommen, die Gesichter von Schriftstellern haben. Elinor würde das Buch furchtbar finden, da eins der Bücher von ihrem wohlsortierten Regal entkommen will. Das Buch wird sowohl als Papier- als auch als elektronische Version erscheinen und wir arbeiten auch an interaktiveren Geschichten. Mein Ziel bei all diesen Projekten ist, alterslos zu schreiben, was beim Bilderbuch heisst, dass ich 3-Jährige UND ihre Eltern unterhalte.

Ich habe das letzte Jahr als unglaublich reich und produktiv empfunden und wohl noch nie in meinem ganzen Leben mehr geschafft, obwohl ich ohne den Zeitdruck von Deadlines und spielerischer denn je arbeite Meine deutsche Disziplin hilft mir wohl, mich nicht zu verzetteln. Sie lacht verschmitzt. Meinen Kalender führe ich nach wie vor auf Papier. Für jedes Projekt trage ich meine festen Arbeitszeiten ein und denke dann an nichts anderes mehr. Das heißt zum Beispiel: Freitag Nachmittag “viertes Spiegel-Buch”, Samstag Vormittag “Kurzgeschichte für das Getty Museum”, abends neues Bilderbuch-Projekt und so weiter. Das macht mich unglaublich produktiv, ohne dass ich es als Stress empfinde. Das Schöne ist die Vielzahl der Projekte und meine Begeisterung für jedes einzelne von ihnen, für mich die organisierte Form des Multi-Tasking.

Interview Funke Foto 1 (c) LWL : Gerharz  © LWL / Gerharz

Wie kommen Sie auf die vielen Ideen und wie schreiben Sie?
Die Ideen sind nicht das Problem, vielmehr die Entscheidung, welche ich nehme. Das muss man sich so vorstellen, als würden Tausende von Figuren über meinen Schreibtisch herumlaufen und rufen ‘Nimm mich, nimm mich, ich will in Deine Geschichte’. Wenn ich mich entschieden habe, mache ich mir Notizen zu den ersten zehn Kapiteln und dann – kommt es häufig ganz anders. Die Figuren entwickeln ihr Eigenleben und es ist so, als ob sie mich in einem Labyrinth in immer neue Gänge locken und ihre Geheimnisse oft erst preisgeben, nachdem sie mich erstmal belogen haben. Sehr spannend… Meine Geschichten schreibe ich per Hand. Damit ich korrigieren kann, lasse ich die linke Seite frei. Dann verbessere ich, korrigiere, schreibe um. Erst dann wird getippt. Am Schluss eines Tages sind ungefähr 4 Seiten entstanden.

Als Geschichtenerzählerin ist es mir sehr wichtig, immer wieder daran zu erinnern, dass man Geschichten auf sehr verschiedene Weise erzählen kann: Musik, Tanz, Film, Bild, Videospiele… all das sind Formen des Geschichtenerzählens und sie sollten gleichberechtig betrachtet werden. Diese Vielfalt zu fördern, da hinkt meiner Meinung nach Schule überall in der Welt hinterher. Die Serie ist z.B. eine alte Form und nicht Erfindung unseres Fernsehzeitalters – Charles Dickens hat seine Romane in einzelnen Kapiteln veröffentlicht. Die Abschnitte von ‘Die Elenden’ von Victor Huge erschienen in Verbindung mit Matrazenreklamen. Ich überlege, ob ich meine nächsten Romane nicht jeweils in zehn Kapitelabschnitten veröffentliche, damit meine Leser nicht drei Jahre warten müssen.

Was möchten Sie vermitteln?
Ich bin habe keine Botschaft. Ich habe das Talent, gut mit Worten umgehen zu können und nutze diese Gabe, um in Geschichten das einzufangen, was uns alle an der Welt befremdet und verzaubert, dieser gleichzeitige Widerspruch zwischen Schönheit und Grausamkeit. Ich schreibe für junge Menschen, daher ist bei mir die Verzauberung und die Hoffnung größer als der Schrecken. Das kann man von Kindern lernen. Kinder stellen den Zauber der Welt nicht in Frage, obwohl sie sehen, dass sie auch schrecklich ist.

Wenn Sie Jugendlichen einen Rat mitgeben, welcher ist es?
Werdet Weltenbürger! Die Welt ist wieder einmal in einem tiefgreifenden Umbruch. Das was als Nationalismus und religiösem Fanatismus passiert, ist sehr beunruhigend. Die Entwicklung von Radikalisierung hat sich schon so häufig in unserer Geschichte auf dieselbe verstörende Weise wiederholt. Es liegt mir daher sehr am Herzen, Kontakt mit meinen internationalen jungen Lesern zu haben. Als Kulturschaffende sehe ich unsere einzige Hoffnung darin, dass sich die heutigen Jugendlichen als Weltenbürger verstehen, sich vernetzen und von einander lernen. Reisen, andere Menschen mit anderen Kulturen und Religionen zu verstehen, ist die wirkungsvollste Weise, um der Radikalisierung entgegen zu wirken.

Zur Person von Cornelia Funke
Die 57-jährige Deutsche gilt als erfolgreichste deutschsprachige Kinder- und Jugendbuchautorin, veröffentlichte rund 50 Titel mit einer Gesamtauflage von über 20 Millionen Exemplaren. Ihre Bücher wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Zu den Titeln zählen z.B. “Die wilden Hühner”, “Herr der Diebe”, die “Tintenherz” Trilogie sowie “Reckless”. Das “Time Magazine” hat die heute in Los Angeles lebende Schriftstellerin 2005 zu den 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten gezählt. Sie unterstützt zahlreiche Kinderprojekte und ist eine der deutschen Botschafterinnen der UN-Dekade Biologische Vielfalt. Sie wurde für ihre Arbeiten mit zahlreichen Stipendien und Auszeichnungen geehrt. Im Jahr 2008 wurde ihr neben dem Bundesverdienstkreuz am Bande auch der Bambi in der Kategorie Kultur verliehen. 2009 erhielt sie den Jacob-Grimm-Preis, Ende 2015 den Annette-von-Droste-Hülshoff Literaturpreis.

Mehr Informationen über Cornelia Funke:
www.corneliafunke.com